Kreisler zu Besuch oder: Das Ende des Sommers


Mit Nachtschicht beschäftige ich mich nun schon seit dreizehn Jahren. Aber erst im September 23 beschloss ich, mit dem Jahreszeitenzyklus etwas Neues auszuprobieren. Statt abendfüllender Erzählungen um meinen Freund Felix Kreisler, den Korrektor für Geschichten und und ungewollte Synchronizitäten (behauptet er zumindest), enstanden tönende Bilderbücher, von denen ich hoffte, sie würden sich im Netz besser machen, als eingelesene Textkonvolute.

Jetzt, ein Jahr später, näherte ich mich dem Abschluss. Erst wenige Tagen zuvor war ich mit Sommer vor Publikum aufgetreten. Ich musste nur noch Audioaufnahmen und Fotos nachbearbeiten. Das würde nicht allzu lange dauern – dachte ich. Ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Reizend, sagte Kreisler. Soll der auf der linken Seite ich sein?

Ich müsste mich nicht mit dem Zeichenstift abmühen, würdest du mir gestatten, dich nur ein einziges Mal zu fotografieren.

Seit einer halben Stunde ging das schon so. Allmählich verlor ich die Geduld. Wie immer war er zur Unzeit gekommen, hatte sich unaufgefordert am Kühlschrank bedient und, wo er schon einmal in der Küche war, gleich einen der Hocker mitgenommen und ihn in mein Arbeitszimmer getragen. Nun saß er mir buchstäblich im Nacken und kommentierte jeden Handgriff.

Ich habe einen wiederkehrenden Alptraum, in dem mich fremde Leute auf der Straße erkennen.

Das wird nicht passieren, Kreisler. Du überschätzt meine Reichweite auf Socialmedia – und deinen eigenen Charme.

Was treibst du da eigentlich?

Ich versuche die Aufnahme meines letzten Auftritts in eine Form zu bringen, mit der auch Leute, die an dem Abend nicht dabei waren, etwas anfangen können.

Natürlich interessierte ihn nicht, was ich zu sagen hatte. Er hatte sich des Kopfhörers bemächtigt und die Aufnahme vorgehört.

Damit schläferst du die Leute ja ein. Das dauert viel zu lange. Das kann alles raus.

Wie bitte?

Wir sind im Park dem alten Mann und Esther begegnet. Ich wurde verdonnert, Esther zu bespaßen, während du mit dem Alten ein paar Worte gewechselt hast. Punkt,so war es. Dann machst du mit dem Flashback in deine Kinderzeit weiter.

Ist das nicht zu gerafft? Das verwirrt die Leute doch. Sollte man außerdem spoilern, dass es sich bei dem Mädchen, das der Alte auf den Schultern trägt um Esther handelt?


Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

Der Flashback, sagte er.

Warum unterbrichst du hier?, fragte Kreisler.

Ich weiß auch nicht. Du hast schon länger nichts mehr gesagt. Das macht mich nervös.


Er rollte die Augen.

Und warum unterbrichst du schon wieder?

Weil ich an dieser Stelle tatsächlich eine kurze Pause gemacht habe. Danach habe ich den Leuten die bisherigen Nachtschichtvideos gezeigt.

Ist der Übergang nicht zu plötzlich? Da blickt doch keiner mehr durch.

Meine Güte! 


Verärgert zog ich den Laptop an mich heran und begann zu tippen. Während der nächsten zehn Minuten gelang es mir tatsächlich, Kreisler auszublenden.

Ist das nun besser?, fragte ich und drehte ihm den Monitor zu.

Viel besser. Jetzt die Videos.

Ich saß da und wartete geduldig das Geräusch der Toilettenspülung ab, die Schritte am Gang, das Klimpern und Klappern aus der Küche. Endlich kam Kreisler zurück, in der einen Hand eine frische Flasche, in der anderen ein belegtes Brot.

Du hättest doch nicht extra auf mich waren müssen. Mach nur weiter.

Gerne: Am Ende aber stehe ich im Park auf dem Rosenhügel. Der alte Mann hatte die Augen geschlossen…

Noch einmal hatte ich die Aufnahme unterbrochen. Meine Finger trommelten auf der Tischplatte, Kreisler kaute auf seinem Brot und wir schwiegen. Schließlich sagte ich:

Das gefällt mir selbst nicht Es gibt Passagen, die lesen sich besser, als sie sich anhören. Das hier ist so eine. Sieh mal: 

Kreisler schien nicht überzeugt.

Und das Ende?

Kreisler wischte sich einen letzten Krümel aus dem Mundwinkel und sah mich spöttisch lächelnd an.

Sag mal, wie sind wir denn nun eigentlich da raus gekommen?

Ich klappte den Deckel des Laptops zu und schickte die Kolonnen der Wörter, die Texte, die Bilder und Filme, die Links und Anspielungen binnen Sekundenfrist schlafen.

Wer sagt denn, das wir raus gekommen sind?


(Ein herzliches Dankeschön an alle, die am 12. September das Buchcafé in der Agnesgasse besucht und zum Gelingen des Abends beigetragen haben.)

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